Entdecken, erleben, erfahren – ein Freiwilligendienst im Ausland
Im Grunde war es erst der Entschluss, nach der Schule etwas Abstand zu bekommen. Abstand vom formalen Lernen, von der Familie, von der eigenen Sprache und Kultur. Am Ende war es etwas anderes: die beste Entscheidung meines Lebens.
Gezweifelt an der Richtigkeit meiner Entscheidung habe ich eigentlich nie – und je mehr andere zweifelten, seien es Eltern oder Freunde, desto weniger zweifelte ich selbst. Schon merkwürdig, aber je mehr ich versuchte, meinen Eltern klarzumachen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, desto mehr habe ich damit mich selbst überzeugt.
Nun gut. Bei mir fiel im Jahr vorm Abi der Entschluss einen Freiwilligendienst im Ausland zu machen. Ich informierte mich gründlich und stieß auf den Europäischen Freiwilligendienst als Programm. Anerkannt und EU-finanziert sowie nicht ganz am anderen Ende der Welt. Perfekt. Die Evangelischen Freiwilligendienste Diakonie Hessen als Entsendeorganisation gefunden und schon konnte es losgehen mit den Bewerbungen für die einzelnen Projekte.
Im August 2016 war es soweit. Mein Flug von Frankfurt nach London Heathrow brachte mich in einen ganz neuen Lebensabschnitt. Ich war seit drei Monaten erwachsen und hatte nun auf einmal das Gefühl totaler Freiheit und Selbstständigkeit. Ich konnte eine neue Kultur entdecken und auch viele Fähigkeiten in mir selbst, während ich dort in einem Performing Arts College für junge Erwachsene mit Behinderungen arbeitete. Das Jahr selbst begann mit tollen Vorbereitungs- und Anfangscamps, wo man direkt gleichgesinnte Freiwillige trifft und Anschluss findet. In meinem Projekt waren wir dann zu dritt. Eine Freiwillige aus Österreich, eine aus Nordengland und ich. Wir wohnten und lebten zusammen als wäre es das Normalste der Welt. Nein, es war das Normalste der Welt. Für ein Jahr waren für mich Dinge Standard, die ich so nie erlebt hatte. Das ganze Jahr war ein Erlebnis.
Die Arbeit mit Behinderten war unglaublich bereichernd. Ich habe viel gelernt, es war unglaublich bereichernd in einer so positiven Umgebung voller besonderer Menschen, sowohl vom Personal als auch von den Lernenden, die mein Leben nachhaltig verändert haben. Ich war in einer Umgebung maximalen Selbstvertrauens, wo jeder ganz einfach er selbst sein konnte. So habe ich auch unglaublich viel über mich erfahren.
Das Orpheus Centre, so heißt meine Aufnahmeorganisation, hat es sich als Ziel gesetzt, jungen Erwachsenen mit Lern- und/oder körperlichen Behinderungen ein möglichst selbstbestimmtes und eigenständiges Leben zu ermöglichen. Mit den kreativen Fächern wie Theater, Musik, Tanz oder Kunst und dabei dem Schwerpunkt der Darbietung wird das Selbstvertrauen gefördert. Begleitende Fächer wie Mathe, English oder auch „Independence“ bringen wichtige Kenntnisse und Fähigkeiten für die Umsetzung des selbstbestimmten Wohnens.
Im Projekt selbst waren wir als Unterstützer im Unterricht tätig. In einer Klasse mit etwa sechs Studenten gibt es den Tutor, der den Unterricht durchführt, sowie in der Regel einen angestellten Learning Support Assistant und – je nach Bedarf – noch Freiwillige wie mich, die den Unterricht durch die direkte Arbeit mit den Studenten maßgeblich unterstützen. Wir wurden also im wahrsten Sinne des Wortes „gebraucht“. Dies auf Englisch zu tun, fiel von Anfang an nicht schwer und doch konnte ich eine Menge lernen. Wir haben die Einrichtung ein Jahr begleitet, waren unter anderem auch bei musikalischen Auftritten der Studenten beteiligt und haben bei den beiden groß angelegten Musicalproduktionen mitgewirkt. Das Jahr ist viel zu groß, um es in Worte zu fassen.
In den Ferien bin ich viel gereist, ich war in den großen Städten Englands, in Schottland und Irland, in Cornwall und an vielen Wochenenden in London. Über Weihnachten war ich eine Woche zuhause, aber Heimweh hatte ich nie. Ich habe mich pudelwohl gefühlt.
Der Winter war manchmal hart. Mein Projekt war sehr ländlich, relativ weit außerhalb des nächsten Ortes. Es war viel dunkel. Aber auch diese Zeit ging schnell vorbei und dank unseren Kollegen und Aktivitäten wie Fußball, Fitness Dance, Pilates und natürlich unserer Band gingen diese Tage schnell vorbei. Insgesamt ging das Jahr viel zu schnell.
Denn dann, wenn es am schönsten ist, muss man gehen. Das ist bei solchen Freiwilligendiensten der Lauf der Dinge und man kann sich von Anfang an drauf einstellen. Einfach ist es trotzdem nicht, gerade auch, nach einem Jahr wieder nachhause zu kommen, aber man muss sich damit abfinden. Eben gerade dadurch wird ein solcher Freiwilligendienst zu dem, was es ist. Etwas ganz besonderes.
Ich habe ungemein viel entdeckt, erlebt und erfahren. Eine Erfahrung, die bleibt, und die mich mein Leben lang begleiten wird. Natürlich geht es nicht immer so rosig zu wie bei mir und auch das Jahr bei mir hat – wie bei jedem – seine Höhen und Tiefen gehabt. Bei manchen geht es schief, doch in den meisten Fällen lohnt es sich.
Für mich war es das wert, was ist mit dir?
Mathias