Mitten in Deutschland – Ein Erfahrungsbericht zum Europäischen Solidaritätskorps

ZirkuTopia

Ich bin Johanne-Laure, 26 Jahre alt und in Frankreich geboren. Vor einem Jahr hatte ich Lust, mir ein Jahr Auszeit zu nehmen, um wieder zu reisen und eine neue Kultur zu entdecken. Ich hatte mir immer gesagt, dass ich gerne eine Erfahrung in Deutschland machen möchte, aber es war trotzdem nur ein Wunsch. In Frankreich hatte ich gerade mein Studium der Darstellenden Künste mit dem Schwerpunkt Tanz abgeschlossen. Es war im Jahr 2018, nach einem Zirkuseinführungskurs in Lyon, dass ich mehr über die Welt des Zirkus wissen wollte, die ich  zum ersten Mal entdeckte: Eine Welt voller Kreativität, frei und offen . . .

Als ich vom Programm Erasmus+ hörte, dachte ich, dass es eine großartige Gelegenheit sein könnte, all diese Wünsche in einem  Projekt zu vereinen und einen Freiwilligendienst im Ausland zu leisten. Mit Erasmus+ auf eine Mission zu gehen, ermöglicht das Eintauchen in das Gastland durch Sprachkurse und Begegnungen mit anderen sowie die Finanzierung der Unterbringung, was für mich ein echtes Plus war. Ein paar Wochen später bin ich also auf der Suche nach einem Auslandseinsatz. Et voilà: ich stieß auf diese  „Doppelmissions”-Annonce aus Kassel, die genau das war, was ich gesucht hatte!

Der Freiwilligendienst wäre in zwei Teile gegliedert: Ein Teil würde die Aktivitäten des Kasseler Hauses der Jugend unterstützen; ein Ort  der nicht-formalen Bildung, der im Laufe des Jahres Seminare sowie internationale Austauschmaßnahmen organisiert. Und der andere Teil würde im Rahmen eines inklusiven Zirkus’ für Kinder und Jugendliche, „ZirkuTopia“, stattfinden, bei dem man sich in die Zirkuspraxis einbringen und das Team bei der Anleitung der Workshops unterstützen sollte.

Ab Juli überschlagen sich die Ereignisse, und ohne viel Zeit nochmal groß darüber nachzudenken, befinde ich mich im September und komme mit Taschen und Koffern am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe an.

Am Morgen meiner Abreise nahm ich meinen Zug am Paris Gare de l’Est. Der Zug, in dem ich Platz genommen habe, war ein deutsch-französischer Zug, was mir den Übergang nach Deutschland sicherlich erleichtert hat. Im Laufe der Stunden ziehen die Landschaften vorbei, die Namen der Städte ändern sich. Am Frankfurter Bahnhof angekommen, nahm ich eine Verbindung nach Kassel, diesmal mit einem Zug der Deutschen Bahn. Nach etwa sieben Stunden erreichte ich endlich mein Ziel: den Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe.

Haus der Jugend
Karl, mein Koordinator, den ich nach vielen Online-Austauschen zum ersten Mal persönlich traf, kam mich vom Bahnhof abholen. Er brachte mich in meine nagelneue Wohnung, wo ich meine neuen Mitbewohner, ebenfalls Freiwillige, kennenlernte. Den Abend verbrachten wir  im Restaurant mit einem Teil des Teams, dem ich ab jetzt angehören sollte. Ich erinnere mich, dass auf der Speisekarte alle Gerichte auch fleischlos angeboten wurden. Ein kleines Detail, aber eines, das in meinem Jahr hier noch Bedeutung bekommen würde. Ich war völlig erschöpft von dieser Reise, von all diesen Veränderungen, aber glücklich und beruhigt über die Vorstellung, was mich erwarten würde.

Am nächsten Tag besuchte ich zum ersten Mal das Jugendzentrum. Nach einigen administrativen Formalitäten lernte ich die Zeiten und die geplanten Treffen kennen, die mein Jahr bestimmen würden. Die Welt des Zirkus von ZirkuTopia wurde mir einige Wochen später eröffnet. Ein großartiger Ort! Schon bei meinem ersten Besuch dort, dachte ich, dass ich ihn als Kind geliebt hätte. ZirkuTopia teilt sich einen Teil seiner Räumlichkeiten und seines Geländes mit dem Abenteuerspielplatz, einem Spielplatz, der ganz den Kindern gewidmet ist. Es gibt Holzhütten, einen Platz für Tierhaltung, ein Spielzimmer und sogar eine große Küche für die Zubereitung von Mahlzeiten. Die Kinder kommen jeden Tag nach der Schule zum Spielen auf dieses großartige Gelände. Einige kommen zum Zirkus, andere kommen zum Spielplatz.

Ich habe in den Workshops im Zirkus als Beobachterin begonnen. Ich muss sagen, dass ich nicht viel darüber wusste, und ich habe viele Kinder mit so viel Talent gesehen! Jonglieren, Einrad, Tücher. . . Wow! Ich glaube, das alles hat mich noch mehr motiviert. Im täglichen Leben ließ mir mein Terminkalender Zeit, diesen neuen Raum, in dem ich lebte, zu entdecken und mich behutsam an ihn anzupassen. Manchmal erkannte ich hier und da ein paar deutsche Ausdrücke (ja, diese wenigen Wörter des Vokabulars, die die Jahre nach dem Fremdsprachenlernens in der Schule überstanden haben), und dann sah ich all die Veränderungen, mit denen ich konfrontiert war. Frankreich und Deutschland sind Nachbarn und doch unterscheiden sich viele Dinge. Für mich sind es die einfachen Details, die mir bemerkenswert erscheinen. Zum Beispiel war die Sortierung des Mülls am Anfang nicht einfach, das Pfand-System für Flaschen zum Beispiel ist in Frankreich überhaupt nicht üblich.

Natürlich ändert sich auch die Ernährung. Nicht ohne Überraschung erfuhr ich, dass Schokoladenbrote „Schoko-Croissants” genannt werden, und das traditionelle Baguette wird durch alle möglichen Brotsorten ersetzt, die ich noch zu entdecken versuche. . .

In meiner neuen Unterkunft musste ich mit Englisch und ein paar Sätzen, die ich auf Deutsch murmeln konnte, jonglieren weil eine meiner Zimmergenossinnen nur Englisch und die andere nur Deutsch sprach. Manchmal eine Herausforderung (besonders nach einem langen Tag!). Aber wir haben es immer geschafft, einander zu verstehen, weil wir es als Teil unseres Freiwilligenlebens akzeptiert haben. Wir standen erst am Anfang dieses Abenteuers. . . The best is yet to come !

Acht Monate später, nach einer langen Zeit im lock down, kann ich auf diese ersten Momente hier zurückblicken und Bilanz ziehen. Selbstverständlich wird eine Erfahrung wie diese mehr gelebt als erzählt. Es ist unmöglich, alles aufzuschreiben, aber es gibt bedeutende Dinge, die nun Teil meines Lebensweges sind und sicherlich auf die eine oder andere Weise meine weiteren Abenteuer beeinflussen werden.

Begegnungen mit Menschen und Reiseerfahrungen waren ein wichtiger Teil meines Freiwilligendienstes. Nach mehreren Seminaren, darunter ein Austausch in Griechenland mit dem Haus der Jugend, machte mich der Kontakt mit den Menschen neugieriger, aufgeschlossener auch meine eigene Kultur zu hinterfragen, und ermöglichte es mir, Zusammenhänge  herzustellen.

Was die Sprache betrifft, so hatte ich einen Monat lang Intensivkurse. Es war manchmal mental ziemlich anstrengend, aber es ermöglichte mir, eine Basis zu erwerben und jeden Tag weiter zu lernen, sei es auf der Strasse, mit meinen Kollegen oder mit den Kindern des Zirkus. Während der Workshops, auch wenn Gesten manchmal Worte ersetzen können, macht es das Verstehen und Verstanden werden leichter! Natürlich habe ich noch viel zu lernen, aber darüber bin ich froh. Ich habe außerdem seit meinem Zirkusdebüt auch einige Tricks gelernt: Bolas, Hoola Hoop, Rola Bola, Jonglieren. . . Einer meiner Lieblingsmomente ist es, nach wochenlangem Training und Lernen zu sehen, wie es einem Kind gelingt, einen Trick alleine zu machen!

Natürlich hat es schwierigere Momente gegeben, manchmal mit Zweifeln, und das sind die Zeiten, in denen Familie und Angehörige am meisten fehlen. Aber ich versuche mich immer daran zu erinnern, dass diese Momente vergänglich sind und dass all diese Dinge, so wie sie sind, Teil dieses Abenteuers sind.

Und noch ein anderes Thema: Mir ist aufgefallen, wie wichtig Recycling, Umwelt- und Klimaschutz hier in Deutschland sind. Es hat mich zum Nachdenken angeregt, wie jeder von uns auf seiner eigenen Ebene ein Akteur sein kann. Diese Überlegungen haben mich jetzt schließlich zu der Entscheidung geführt, auf eine vegetarische Ernährung umzustellen; ich versuche, mir der drängenden Probleme bewusst zu sein, mit denen wir derzeit leben, umso mehr seit Beginn dieser Pandemie.

 

Ich habe noch einige Monate freiwilliger Arbeit vor mir, und ich bin voller Fragen über die Zukunft, über meine Pläne unter den aktuellen Umständen. Auf jeden Fall versuche ich, optimistisch zu bleiben und aus jeder Erfahrung das Beste herauszuholen, denn ich werde sie nur einmal erleben!

Johanne-Laure ist im Rahmen des Europäischen Solidaritätskorps für 11 Monate in Kassel. Der Aufenthalt wird finanziert vom Europäischen Förderprogramm “Europäischer Solidaritätskorps”. Der Freiwilligendienst im Rahmen des Europäischen Solidaritätskorps ist für die Freiwilligen kostenlos.