Freiwilligendienst in Kassel

Asja aus Italien war von Oktober 2021 – September 2022 für ein Jahr in Kassel und hat einen europäischen Freiwilligendienst beim Kommunalen Jugendbildungswerk und bei ZirkuTopia e.V. gemacht.

Hier schildert sie ihre Eindrücke:

Obelisk in Kassel
Foto: Asja Macili
Meine erste Woche in Kassel.

Wie kann man sich für ein ganzes Jahr weg von zu Hause in einem anderen Land, dessen Sprache man kaum kennt, vorbereiten? Ich habe bisher nur ein paar Deutsch-Kurse an der Universtat gemacht, aber ich fühle mich nicht so sicher und ich weiß natürlich nicht was ich erwarten kann.

Meine Entscheidung in den Tagen vor der Reise war, mich überhaupt nicht vorzubereiten (mit Ausnahme meines Koffers und der Bürokratie!). Ich hatte richtig Angst vor zu hohen Erwartungen, aber auch vor sinnlosen Sorgen. So bin ich am 4. Oktober nach Kassel gezogen, eine Stadt die mir bis vor kurzem völlig unbekannt war. Ich hatte nur den Wunsch zu entdecken, was mich in den folgenden Monaten erwartet.

Ich hatte mich nach Abschluss meines Studiums für ein Projekt mit dem ESK entschieden, als mir alle die Möglichkeiten, die ich hatte, plötzlich unbefriedigend erschienen. Ich hatte das Gefühl, dass mir noch etwas fehlte. Vielleicht wollte ich jeden Tag etwas Neues lernen (so wie es als Student passiert). Oder vielleicht brauchte ich nur mehr Zeit um zu verstehen, was mir dieser Moment in meinem Leben bieten könnte.

Die Idee einen Teil meines Lebens im Ausland zu verbringen, ein anderes Land und eine andere Kultur kennen zu lernen, war etwas, das ich schon lange tun wollte, und ein Freiwilligendienst war für mich die beste Wahl.

Ich erinnere mich, dass ich meine Bewerbung für dieses Projekt an meinem Geburtstag geschickt habe (metaphorisch eine wunderbare Gelegenheit für einen Neuanfang, aber in der in der Realität mein wöchentlicher freier Tag von der Arbeit). Ein paar Tage später habe ich eine E-Mail erhalten, die nicht nur mit einem Geburtstagsgruß endete, sondern auch mit einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Ich erinnere mich auch an die Aufregung, ein so wichtiges Gespräch auf Englisch führen zu können, und mehr herauszufinden was ich in meinem Projekt tun würde. Dann gab es die Vorbereitungstreffen mit der Entsendeorganisation, die Suche nach einem großen Koffer (denn keiner der Koffer, die ich zu Hause hatte, war für eine so lange Reise gekauft worden), die Suche nach Transportmitteln, Verabschiedung von Freunden und Familie und viele Versprechen von Postkarten.

Ich bin jetzt vor ein in paar Tagen angekommen und lerne immer noch, mich in der Stadt zu orientieren. Ich lebe mit zwei ungarischen Mädchen zusammen, und wir verstehen uns gut. Es wird sicher einige Zeit dauern, bis ich mich ganz zu Hause fühle. Der Gedanke, ein Jahr weit weg von Freunden und Familie zu verbringen, erscheint manchmal sehr schwer. Manchmal ist die Idee, wieder eine Gruppe von Freunden zu finden, aufregend. Ich habe einen Sprachkurs angefangen und hoffe, dass ich mich bald verbessern kann. Ich arbeite auch mit Kindern und je mehr ich rede, desto mehr Spaß habe ich.

ZirkuTopia
Foto: Asja Macili

Freiwillige in Kassel
Foto: Asja Macili
Es ist schön, sich mit anderen Freiwilligen auszutauschen und bei anderen die gleichen Gedanken und Gefühle zu entdecken. Uns allen gemeinsam war das Moment das wir im September erlebten, als unsere Freunde ihr Studium oder ihren Alltag wieder begannen und wir auf den Oktober und unsere Abreise warteten. Es war eine seltsame Zeit, in der wir uns schon nicht mehr zu Hause fühlten, aber trotzdem nicht weggehen konnten.

Im Moment habe ich noch mehr Erwartungen als Erfahrungen zu erzählen. Die Frage, die mir am häufigsten gestellt wird, ist auch die Frage, die am schwierigsten zu beantworten ist: “Warum bist du hier?”. Diese Frage kann verschiedene Bedeutungen haben: was erwartest du? was willst du lernen? warum bist du weggegangen? Nur eine Antwort zu geben ist für mich schwer, denn es gibt viele Gründe für diese Wahl: der Wunsch eine Sprache zu lernen, meine Grenzen auszutesten, lernen mit Schwierigkeiten umzugehen, mich nach der Universität neu zu erfinden und etwas völlig Neues zu erleben. Die Antwort die ich mir jetzt gebe ist, dass ich mir diese Frage in einem Jahr nicht mehr stellen muss. Ich hoffe nur, dass durch all die Dinge die ich erleben werde, wird mir klar, dass es einfach das Beste war, dieses Projekt zu wählen.

 

Einige Monate später …

Vor kurzem habe ich meine erste Reflexion gelesen, die ich nur eine Woche nach meiner Ankunft in Kassel geschrieben hatte. Es war sehr seltsam, meine ersten Gedanken noch einmal zu lesen, als ich noch nicht wusste, was mich erwartete.

Ich lebe jetzt acht Monaten hier in Kassel und kann jetzt viel mehr über meine Arbeit und meine Erfahrungen in Deutschland erzählen. Meine tägliche Arbeit ist auf zwei Vereine aufgeteilt und das ermöglicht es mir, mit unterschiedlichen Erfahrungen umzugehen. Beide sind in der nicht-formalen Bildung aktiv. Einen Teil meiner Woche ist bei einem inklusiven Zirkus, Zirkutopia, wo Kinder aller Altersgruppen mit und ohne Behinderung nach der Schule zum Spielen und Trainieren kommen. Wir treffen uns in kleinen, fröhlichen und lauten Gruppen um gemeinsam zu spielen und uns in den verschiedensten Zirkusdisziplinen zu üben. Sportliche Ergebnisse sind natürlich nicht das Hauptziel, sondern es geht darum, an der Integration zu arbeiten und die Fähigkeiten aller zu testen. So lernen wir auch gut miteinander auszukommen. Es ist trotzdem spannend zu sehen, was die Kinder und Jugendlichen können und wie viel Mühe sie sich manchmal geben um neue Übungen zu lernen oder die verschiedenen Zirkusmaterialien (Hoola Hop, Diablo, Keulen, Jonglierbälle, Devilsticks …) zu üben. Natürlich hat nicht jeder so viel Geduld, und manchmal spielen wir stundenlang Fangspiele. Mitte Mai fand die alljährliche Gala statt, bei der jeder die Gelegenheit hatte, auf die Bühne zu stehen und den Eltern und Freunden eine Show zum Thema Geisterbahn zu präsentieren und den wohlverdienten Applaus zu erhalten (fast 200 Personen nahmen an der zweitägigen Show teil!). Ich war überrascht, wie viele verschiedene Dinge sich die Kinder ausgedacht haben (Auftritte auf dem Trapez, auf Stelzen, Saltos oder mit all den anderen Zirkusmaterialien, verkleidet als Fledermäuse, Mumien, Werwölfe und alle Arten von schrecklichen Kreaturen). Ich habe auch mitgemacht, und zwar mit einer Gymnastiknummer mit zwei kleinen Mädchen, und es war aufregend, die Freude und den Stolz mit ihnen nach der Aufführung zu teilen.

Ich hatte noch nie mit Kindern gearbeitet, aber ich muss sagen, dass es eine sehr schöne Erfahrung ist, auch wenn es nicht immer einfach ist. Ich probiere mich auch im Jonglieren, und jetzt, nach monatelangem Training, habe ich auch gute Resultate! Manchmal sind die Tage sehr anstrengend, aber gleichzeitig scheint es mir nicht wahr zu sein, dass ein Teil meiner Arbeit darin besteht zu spielen! Außerdem hat mich die Arbeit mit Kindern von Anfang an motiviert die Sprache zu lernen. Selbst mit Kollegen sprechen wir nur auf Deutsch. Ich bin sicherlich viel ruhiger und scheuer, als ich es normalerweise bin, aber das hat mir sehr geholfen, die Sprache zu lernen. Gleich nach meiner Ankunft habe ich einen einmonatigen Intensivkurs gemacht und ich hatte auch die Grundlagen der Grammatik bereits an der Universität gelernt, aber jeden Tag Deutsch hören und sprechen zu müssen, ist eine ganz anderes! Manchmal wird es wirklich schwierig, vor allem am Ende besonders langer oder anstrengender Tage, wenn ich anfange, Vokabeln oder Sprachen zu verwechseln (selbst zu Hause, wo wir mit unseren Mitbewohnern Englisch sprechen, gibt es Situationen, in denen wir uns mit Gesten und Lauten erklären müssen. Jedes Mal, muss ich sagen, mit großer Belustigung).

Der Tag des Zeltaufbaus
Foto: Asja Macili
Der andere Teil meiner Arbeit findet im Haus der Jugend statt. Es gibt eine Cafeteria, Büros und Räume, die auf Wunsch der Kinder und Schulen für verschiedene Aktivitäten genutzt werden können. Am meisten interessieren die Tage, an denen Seminare stattfinden. Ich kann sowohl als Zuschauerin als auch manchmal als Teilnehmerin teilnehmen. Es ist nicht immer einfach, vor allem am Anfang, als es manchmal sehr schwierig war, den Gesprächen zu folgen, aber ich fand es trotzdem sehr spannend zu sehen, wie diese Aktivitäten durchgeführt wurden. Ein weiterer wichtiger Teil sind die interkulturellen Aktivitäten, die in diesem Sommer hier in Kassel mit jungen Menschen aus anderen europäischen Ländern stattfinden werden. Ich freue mich schon darauf, dabei zu sein. Auch ein Austausch mit dem Zirkus in Spanien in den Osterferien war geplant, musste aber leider abgesagt werden (“abgesagt wegen Corona”, war einer der ersten Sätze, die ich hier gelernt habe). Gleich nach meiner Ankunft bin ich auch zu einem Treffen von “Freiwillig ins Ausland” gegangen, wo ich über mein ESC-Projekt und meine Erfahrungen berichtete. Es war vielleicht ein bisschen verrückt, als ich vor den Studenten (auf Deutsch) erzählte, was ich mache. Früher hätte ich das sicher nicht gemacht, aber es war schön, mich selbst herauszufordern und – sicher mit einigen Fehlern – von meiner kurzen Erfahrung in Deutschland berichten zu können.
Durch die Teilnahme an diesem Projekt habe ich definitiv erfahren, dass ich mehr kann, als ich mir gedacht habe. Außerdem hatte ich die Möglichkeit, Menschen zu treffen und Dinge zu tun und zu fühlen, die ich nie getan oder gefühlt hätte. Auch wenn man sich in einem sehr sicheren Umfeld befindet, ist es nicht immer einfach, sich als Ausländer zu fühlen. Selbst alltägliche Handlungen werden schwierig und man kann nicht immer vollständig mitteilen, was man fühlt oder erlebt. Wenn ich meinen Freunden zu Hause davon erzähle, habe ich manchmal den Eindruck, dass sie denken, ich mache einen sehr langen Urlaub. Aber es gibt auch diese schwierigen Aspekte, die zu diesem Abenteuer gehören. Gleichzeitig bin ich immer sehr stolz, wenn ich all diese kleinen täglichen Herausforderungen schaffe.

… in Brüssel
Foto: Asja Macili
Bei meinem Projekt bin ich die einzige Freiwillige, aber glücklicherweise wohne ich mit zwei anderen Mädchen zusammen. Sie machen auch ein Freiwilligenprojekt in einem anderen Verein hier in der Stadt. Eine kommt aus Italien, die andere aus Ungarn. Wir haben uns sehr gut verstanden, so gut, dass wir sogar gemeinsam einen Kurzurlaub in Brüssel gemacht haben! Das war ein großes Glück, denn es war nicht immer einfach andere Menschen kennen zu lernen. Außerdem fanden in diesem Jahr zwei Seminare statt, bei denen ich die Gelegenheit hatte, viele der anderen Freiwilligen kennenzulernen die an ESK-Projekten in Deutschland teilnehmen. Das waren zwei wichtige (und auch sehr lustige!) Erfahrungen für mich. Ich habe nicht nur andere getroffen, mit denen ich diese besondere Erfahrung teile, sondern auch sehr offene Menschen, die ganz besondere Erfahrungen zu erzählen haben. So habe ich erkannt, wie wichtig es für mich ist, mit anderen Lebensformen und Meinungen in Kontakt zu kommen. Bei diesen Treffen waren wir immer sehr neugierig auf die anderen, versuchten ein paar Worte in anderen Sprachen zu lernen oder tauschten einfach Lieder aus. Außerdem konnte ich neue Kontakte machen und andere Städte in Deutschland besuchen, um meine neuen Freunde zu besuchen.

Kurz gesagt, dieses Jahr ist für mich eine Zeit großen Erfolgs nicht nur, weil ich eine neue Sprache lerne und Aktivitäten ausprobiere, die ich noch nie zuvor ausprobiert habe, sondern auch wegen der persönlichen Entwicklung und all der praktischen Dinge, die ich lerne. Ich lebe endlich zum ersten Mal allein, muss mich um den Haushalt und mein Geld kümmern, kochen und meine Freizeit organisieren. Das sind vielleicht keine besonderen Dinge, aber sie erscheinen mir im Moment so. Es ist auch wichtig für mich zu sehen, wie das Leben in einem anderen Land funktioniert. Eine Sache, die mich sehr beeindruckt hat, war, dass, als ich hier ankam (als ich die Sprache noch nicht einmal sehr gut beherrschte), jeder, auch in Besprechungen, immer versuchte, mich zu integrieren und nach meiner Meinung zu fragen. Und das, obwohl ich die Neue war und immer noch nicht wirklich verstand, wie die Dinge funktionierten! Ich freue mich auf den Sommer und all die geplanten Aktivitäten, auch wenn es vielleicht der anstrengendste Teil meiner Zeit hier wird. Ich kann es kaum erwarten, die Teilnehmer des Austauschs in diesem Sommer kennen zu lernen und herauszufinden, was die letzten Monate bringen werden. Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich noch viele Möglichkeiten vor mir habe (was ich vor meiner Abreise in der kleinen Stadt, in der ich mein ganzes Leben verbracht hatte, nicht so sicher war!).

 

Die Einsatzstellen dieses Freiwilligendienstes im Rahmen des Europäischen Solidaritätskorps sind das

  • Kommunale Jugendbildungswerk der Stadt Kassel (Seminare, internationale Jugendbegegnungen, Infoveranstaltungen für Auslandsaufenthalte, Filmworkshops, Fotoprojekt “Lebenskunst”, Unterstützung in der Hausorganisation im Haus der Jugend) und
  • ZirkuTopia e.V. (Zirkusgruppen mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit und ohne Beeinträchtigungen, Zirkuscamps und Zirkusgalas)

Das Projekt wird gefördert vom Europäischen Solidaritätskorps

Infos dazu bei: Stadt Kassel, Kommunales Jugendbildungswerk, Eurodesk Kassel- karl-heinz.stark@kassel.de